Auf einen Blick
Das Harvard-Konzept beschreibt wichtige Prinzipien, um in Verhandlungssituationen eine Win-Win-Lösung für alle Beteiligten herzustellen. Dieser Artikel beschreibt einen empfohlenen Verhandlungsablauf, die Harvard-Prinzipien sowie Kritik am Modell.
Wenn du bisher dachtest, Verhandlungen haben nichts mit Projektmanagement zu tun, dann schau dir mal die folgenden Beispiele an:
- Mit einem Linienverantwortlichen wird über den Einsatz einer Schlüsselressource gesprochen.
- Ein Mitarbeiter möchte früh Feierabend machen, wird aber dringend gebraucht.
- Ein Lieferant möchte gute Konditionen herausschlagen.
- Der Auftraggeber hat zusätzliche Anforderungen an das Projekt.
- Die Baufirma hat die Garage einen Meter zu kurz gebaut, und dafür möchtest du jetzt einen angemessenen Preisnachlass.
Du siehst: Verhandlungen sind Alltag. Es gibt unzählige Situationen, in denen Verhandlungen im Projektumfeld stattfinden – ohne Richter und Gesetze. Sobald man sich nicht einig wird, kann sich aus Kleinigkeiten schnell ein echter Konflikt entwickeln. Das möchtest du gern vermeiden? Dann solltest du dich mit dem Harvard-Konzept und seinen fünf Prinzipien auseinandersetzen.
Nachteile des traditionellen Verhandelns
Warum fühlen sich Verhandlungen oft unangenehm an und führen häufig zu keinem konstruktiven Ergebnis? Um diese Fragen zu beantworten, hilft die folgende Grafik:
Typisch für Verhandlungen sind zwei Seiten, die sich bereits von Beginn an als Gegner betrachten. Beide nehmen extreme Positionen ein und stellen ihre Maximalforderung. Was passiert? Die Gegenseite lehnt erst einmal komplett ab. Im nächsten Schritt gibt es womöglich ein erstes Entgegenkommen der der einen Seite – vielleicht auch der anderen. Es wird weiter diskutiert, sich aufeinander zu bewegt. Irgendwann wird das letzte Angebot vorgelegt … dann das allerletzte Angebot … und dann? Wenn keine Seite mehr nachgeben will, führt dies zum Verhandlungssabbruch – ohne Ergebnis.
Selbst wenn es zu einer Einigung kommen sollte: Wird diese sich für beide Seiten gut anfühlen? Oder hat dieses Ergebnis zu viel von einem Kompromiss, vom Nachgeben und dem Gefühl, verloren zu haben?
Das Harvard-Konzept geht Verhandlungen auf andere Weise an!
Was ist das Harvard-Konzept?
Das Harvard-Konzept wird auch als „sachbezogenes Verhandeln“ bezeichnet und gilt Standardmodell für erfolgreiche Verhandlungen. Es ist das Ergebnis eines Projekts der bekannten Harvard-Universität in den 1970iger Jahren und gehört heute zum Studienprogramm der Harvard Law School.
Das große Ziel: eine faire Einigung mit Win-Win für beide Verhandlungspartner zu erzielen.
Was ist eine Win-Win-Situation?
Nicht umsonst wird ein Kompromiss oft als „fauler“ Kompromiss bezeichnet. Warum? Weil sich Kompromisse oft schlecht anfühlen. So, als hätte man etwas verloren oder nur widerwillig abgegeben.
Eine Win-Win-Situation ist deutlich positiver belegt: Alle Parteien fühlen sich mit dem Verhandlungsergebnis wohl und haben das Gefühl, ein gutes Geschäft gemacht zu haben. Um dies zu erreichen, müssen bereits in der Verhandlungsvorbereitung die Weichen richtig gestellt werden.
Vor der Verhandlung
Wir beginnen sozusagen mit Schritt Null – dieser sollte vor einer Verhandlung durchgeführt werden. Worum geht es? Es wird geprüft, ob überhaupt eine Verhandlungssituation vorliegt, ob die Verhandlungspartner überhaupt zu einem Interessensausgleich fähig sind.
Folgende Fragen werden hierbei gestellt:
- Gibt es Handlungsspielraum auf beiden Seiten?
- Gibt es Erfolgschancen?
- Welche Alternativen gibt es zur Verhandlung?
Wurde nach Beantwortung der Fragen festgestellt, dass die Voraussetzungen für eine Verhandlung gegeben sind, dann kommt das Harvard-Konzept endgültig in Spiel.
Prinzipien des Harvard-Konzepts
Das Harvard-Konzept bezieht sich auf fünf Prinzipien:
- Trennung von Mensch und Problem
- Fokus auf Interessen und Bedürfnisse statt auf Positionen
- Entwickeln von Optionen
- Festlegen objektiver Kriterien
- Erarbeiten von BATNA
In den folgenden Abschnitten erfährst du mehr über jedes dieser Prinzipien.
1. Trennung von Mensch und Problem
Eines der wichtigsten Prinzipien ist die Trennung der Person des Verhandlungspartners vom Verhandlungsproblem. Diesem Prinzip liegt ein bekanntes Kommunikationsmodell zugrunde: Das Eisbergmodell. Dieses Modell unterteilt die Kommunikation in zwei Bereiche:
- Die Sachebene mit neutralen Daten und Fakten
- Die Beziehungsebene mit Bedürfnissen, Gefühlen und Wünschen
Die Beziehungsebene spielt in der Kommunikation eine viel größere Rolle, als häufig angenommen. So wirkt sich die Beziehung der Verhandlungspartner auch auf die Verhandlungssituation aus. Im Harvard-Konzept ist es wichtig, die Ebenen ebenfalls getrennt voneinander zu beachten, um mögliche Einflüsse der Beziehungsebene auf die sachlichen Fakten zu minimieren. Dies gelingt durch folgende Schritte:
- Zusammenstellung aller Fragen/Themen der Sachebene
- Zusammenstellen von möglichen Problemen, die auf der Beziehungsebene auftreten können
- Finden von Lösungswegen für beide Ebenen
Achte auf deine Einstellung: Konzentriere dich auf die Sachinformationen, unterstelle keine bösen Absichten und gehe davon aus, dass auch dein Gegenüber eine Win-Win-Situation erreichen möchte.
2. Fokus auf Interessen und Bedürfnisse statt auf Positionen
Eines der wichtigsten Prinzipien des Harvard-Konzepts: Vermeide es, in Positionen zu denken. Wichtig ist in einer Verhandlung nicht was gefordert wird, sondern warum. Nur wenn beide Seiten die Interessen und Bedürfnisse der jeweils anderen Seite kennen, kann eine zufriedenstellende Lösung für beide Seiten gefunden werden.
Von folgendem Beispiel mit der Orange hast du sicher schon einmal gehört:
Beispiel:
Zwei Kinder kommen zur Mutter. Jedes möchte unbedingt die eine Orange haben. Die Mutter könnte nun die Orange halbieren und jedem Kind die Hälfte überreichen. Jede Position würde somit einen Anteil bekommen – ein klassischer Kompromiss. Die Mutter stellt allerdings genau die richtige Frage: „Warum wollt ihr die Orange haben?“ Das erste Kind möchte gern einen frisch gepressten Saft trinken, während das andere einen Kuchen backen möchte und dafür die Schale der Orange benötigt. Die eigentlichen Interessen bezogen sich also nur auf Teile der Orange. Durch das Hinterfragen wurde für alle Beteiligten die optimale Lösung gefunden.
Wir haben noch ein zweites Beispiel für dich – dieses Mal aus der Welt des Projektmanagements:
Beispiel 2:
Der Kunde pocht darauf, dass der neue Online-Shop bis Ende des Monats fertig ist. Der Projektleiter weiß aber, dass dieser Termin nicht zu schaffen ist: Zwei der besten Entwickler liegen mit Grippe im Bett und die Produktdatenbank ist äußerst komplex. Ressourcen aus anderen Projekten können ebenfalls nicht einspringen. Genau an dieser Stelle sollten die Interessen des Kunden hinterfragt werden: Was, wenn er nur deshalb auf den Termin pocht, weil er das Webshop-Design Ende des Monats seinen Investoren präsentieren muss? Kein Problem: Da es im ersten Schritt nicht auf die Datenbank ankommt, kann das Design locker geliefert werden – Designer sind genügend vorhanden.
Merke: Oft gibt es triviale Lösungen, auf die keiner kommt – schlichtweg weil niemand die eigentliche Motivation hinter einer harten Position hinterfragt.
3. Entwickeln von Optionen
Die Beispiele im letzten Abschnitt zeigen das Ziel einer jeden Verhandlung: Im Idealfall wird eine Win-Win-Situation ermöglicht.
Der erste Schritt dorthin: Es werden Handlungsalternativen gesucht, die im Sinne beider Seiten sind – und schließlich wird die optimale für beide Parteien ausgewählt. Nur wenn beide Seiten flexibel und kreativ sind, ist die Chance auf eine Win-Win-Lösung gegeben.
4. Festlegen objektiver Kriterien
Um das Verhandlungsergebnis bewerten zu können, werden Kriterien benötigt. Diese sollten fair und klar nachvollziehbar sein. Diese Kriterien machen deutlich, warum die Optionen gewählt wurden und warum sie für beide Partner die richtige ist.
Ob ein Verhandlungsergebnis fair ist, kann unter anderem durch folgende Punkte legitimiert werden:
- Legitimation durch gesetzliche Regelungen oder Vorschriften
- Präzedenzfälle
- Branchenüblichkeit
- Qualitätsstandards
Nicht zuletzt gelten auch „weiche“ Faktoren: Können sich die Verhandlungspartner noch in die Augen schauen? Wurde fair verhandelt und miteinander umgegangen?
5. Erarbeiten von BATNA
Das fünfte und häufig vergessene Prinzip des Harvard-Konzepts: BATNA steht für „Best Alternative to a Negotiated Agreement“. Was ist die beste Alternative, wenn die Verhandlung scheitert oder nicht stattfindet? Anders ausgedrückt: Wie sieht der Plan B aus?
Beispiel:
Es findet eine Verhandlung zwischen Kunden und Lieferanten statt. Beide Parteien erarbeiten ihre BATNA: Falls die Verhandlung scheitert, muss sich der Kunde einen neuen Speziallieferanten suchen, während der Lieferant seinen besten Kunden verliert. Beide Seiten wissen also, was auf dem Spiel steht – und das motiviert.
Es ist außerdem hilfreich, seine BATNA genau zu kennen, damit nicht versehentlich einer Option zugestimmt wird, die schlechter als die eigene BATNA ist.
Beispiel:
Stell dir einen privaten Hausverkauf vor. Der Verkäufer hat als BATNA das Behalten und Vermieten des Hauses definiert. Wenn er nun keinen akzeptablen Preis in der Verhandlung bekommen kann, dann kann BATNA die bessere Alternative sein – also bricht er die Verhandlung ab.
BATNA ist ungemein nützlich:
- Jedem Verhandlungspartner ist klar, ob er besser aus der Verhandlung aussteigen oder weiter verhandeln sollte.
- Es ist für alle Beteiligten sinnvoll, eine Alternative im Hinterkopf zu haben, falls die Verhandlung scheitert.
- Durch die Ausarbeitung vor der Verhandlung steigen die Partner tiefer in die Thematik ein.
- Die eigene Verhandlungsposition wird gestärkt.
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Stolperfallen und Kritik am Harvard-Konzept
Es versteht sich von selbst, dass es in Verhandlungen überwiegend „menschelt“. Es fällt schwer, nur die Positionen zu sehen und die Beziehung auszublenden. Deshalb sollten grundlegende Kommunikationsregeln regelmäßig in den Vordergrund gerückt werden – auch wenn sie selbstverständlich erscheinen:
- Keine faulen Tricks anwenden
- Gegenüber nicht unter Druck setzen
- Missstimmungen sofort ansprechen
- Sachlicher Tonfall
Wie schön wäre es, wenn durch das Einhalten der Prinzipien alles einfach und die Beteiligten zufrieden wären. Doch in Wirklichkeit gibt es einige Stolpersteine:
- Die Verhandlungspartner meinen es nicht gut miteinander.
- Es besteht nicht der Wille, die Interessen des Gegenübers zu erfüllen.
- Eine Partei hat weniger zu verlieren.
- Eine der Parteien weiß mehr als die andere und spielt dieses Wissen aus.
Es gibt nicht wenige Verhandlungsprofis, die klar sagen:
In sehr asymmetrischen Verhandlungen funktioniert Harvard nicht. Doch obwohl das Harvard-Konzept kein Allheilmittel
und auch kein gelingsicheres Rezept ist: Wenn beiden Seiten auch nur halbwegs an einer konstruktiven Lösung gelegen ist, dann hilft die Orientierung an den 5 Prinzipien garantiert.
Fazit
Das Harvard-Konzept gilt als Standard-Modell für erfolgreiche Verhandlungen und beinhaltet 5 Prinzipien. Wenn es gelingt, Probleme sachlich zu betrachten und sich auf den Verhandlungspartner einzulassen, ist die Chance auf Win-Win-Situationen groß.
Einige der Grafiken sind angelehnt an das „Grundlagenwerk“ zum Harvard-Konzept:
- Fisher, Roger (Autor)